Der Märchenturm zu Babel
Es war einmal ein Erzähler, der suchte das Märchenbuch aller Märchenbücher. Er wanderte durch die ganze Welt und stand auf einmal vor dem sagenhaften Turm zu Babel, dessen Spitze bis in die Wolken hinaufreichte. Er stieg diesen Turm hinauf, erblickte die vielen Säle der geheimnisvollen Bibliothek zu Babel.
Als er schließlich ganz oben ankam, sein Bart war inzwischen um einiges gewachsen und die Luft war merklich dünner geworden, fand er das Märchenbuch aller Märchenbücher.
Noch geschlossen lag es vor ihm auf einem großen alten Pult. Er schlug es auf und begann zu lesen. Doch dieses Buch hatte eine besondere Eigenschaft:
Beim Umblättern teilte sich jede Seite in zwei neue, er las und las. Das Buch wurde dicker und dicker und somit schwerer und schwerer.
Die Märchen wurden immer spannender, und er konnte nicht aufhören zu lesen, das uralte dicke Mauerwerk begann schon zu ächzen und rissig zu werden.
Aber er wollte sie alle lesen, jede der Geschichten war wie ein kleines Licht, das in seinem Herzen angezündet wurde, wie abertausende kleine Lichter leuchteten in ihm die Märchen, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen.
Da zerbarst der Turm unter dem Gewicht des Märchenbuches aller Märchenbücher.
Abertausende von Buchseiten flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft, sie fielen langsamer zur Erde als die schweren Steine, die unter sich die Weisheit der alten Welt begruben.
Einige Seiten davon habe ich aus den Trümmern gefischt und in meine Taschen gestopft, um sie Euch zu erzählen.
Was geschah aber mit dem Märchenerzähler? Als der Turm zu Babel zusammenbrach, verwandelte sich der Märchenerzähler in die Milchstraße mit ihren vielen tausend Sternen und Sonnen. Und wenn ihr eine Sternschnuppe seht, kommt sie von ihm, dem Märchenerzähler aller Märchenerzähler.
© Markus Virck, 01.07.2008 - 24.11.2010
(frei nach G.L. Borges)